Neue Geschichten von Herrn Blyantur
Alkoholische Gärung
Während Herr Blyantur langsam wach wurde, merkte er es schon. Etwas war
nicht so, wie sonst. Jemand war in seinem Kopf mit einem
Presslufthammer zugange.Vielleicht waren aber auch viele winzige
Männlein mit solchen hüpfenden Fröschen, die man von Baustellen kennt,
dabei, sein Gehirn zu verdichten. So fühlte es sich an. Er verfluchte
die Feier des gestrigen Abends, wie er das in solchen Situationen aber
immer mal wieder tat. Und schwor sich, auch immer mal wieder, es nicht
mehr soweit kommen zu lassen.
Herr Blyantur schwenkte die Beine vorsichtig über die Bettkante,
krampfhaft bemüht, den Kopf so wenig wie möglich zu bewegen. Und schon
gar nicht ruckartig. Zuerst ging er ins Bad. Dort hielt er den Kopf in
den kalten Wasserstrahl und verschaffte sich somit eine gelinde
Erleichterung. Der Schmerz war erst einmal kurzfristig betäubt. So
konnte er in der Küche die Kaffeemaschine in Gang bringen. Er nahm
doppelt soviel Kaffeepulver wie gewöhnlich. Der schwarzbraunen Brühe,
die er schließlich erhielt, fügte er den Saft einer soeben
ausgequetschten Zitrone hinzu. Ohne Zucker und mit Todesverachtung
schluckte er das Gebräu und hoffte, dass es Linderung verschaffen
würde. Wenigstens versprach das eine seiner Bekannten, die ihm dieses
„Geheimrezept“ verraten hatte.
Im Tiefkühler fand er dann das auf minus achtzehn Grad heruntergekühlte
Gelkissen und wickelte es in ein Tuch. Dann legte er sich vorsichtig
auf das Sofa in der Stube und das kalte Kissen auf die Stirn. Er deckte
sich mit der braunen Decke so zu, dass der hellbraune Pferdekopf, der
die Decke schmückte, auf seinem Bauch zu liegen kam.
Nur nicht denken, dachte er.
Doch dann begannen sich seine Gedanken vorsichtig an den Synapsen
entlang in die Vergangenheit zu hangeln.
Und er wusste nicht, warum ihm das passierte.
Er war vielleicht sechs Jahre alt und besuchte seinen
Lieblingsonkel Gerhard, der aber von der gesamten Verwandtschaft und
von allen Bekannten nur Gerrat gerufen wurde. Onkel Gerhard wohnte in
einer stillen Straße in einem Einfamilienhaus. Vorne an der Straße
waren die hölzernen Zaunfelder zwischen halbhohe rotbraune
Klinkersäulen eingeklemmt. Nach dem Gartentürchen ging man auch auf
einem Weg, der aus ebendieser Sorte Klinker bestand, bis zum Hof. Die
Steine waren in einem schönen Muster verlegt, von dem er nicht wusste,
wie man es nannte, das er später aber als Fischgrätverband kennenlernen
sollte. Links war eine Rinne aus den Ziegeln gestaltet, die das
Regenwasser bis auf die Straße und damit in die Kanalisation leitete.
Curtchen ging jedes Mal mit dem linken Fuß in der Rinne und mit dem
rechten auf dem Weg bewegte sich so in einem wiegenden Auf und Ab. Fast
kam es ihm vor, als schwebte er. Wenn er am Ende der Rinne anlangte,
stand er unter dem großen Walnussbaum, der ihm riesig erschien, denn er
selber war ja noch ein Zwerg.
Sein Onkel befand sich in der Waschküche, die links an das Haus
angebaut worden war und die ursprünglich einmal eine Stall war für
Kaninchen und Ziegen. Nun war in eine Ecke des Raumes ein Ofen gemauert
worden, in den ein großer emaillierter Kessel aus Gusseisen eingelassen
war. Drunter wurde Feuer gemacht und seine Tante Liesbeth kochte die
Wäsche darin.
Jetzt aber war Onkel Gerhard in der Waschküche und füllte etwas in eine
große bauchige Glasflasche. Curtchen stand daneben und staunte.
„Das wird Johannisbeerwein“, sagte Onkel Gerrat.
„Ich will auch Johannisbeerwein“, nörgelte Curtchen.
Sein Onkel gab ihm eine leere Weinflasche und füllte etwas von seiner
rosafarbenen trüben Brühe hinein. Obenauf verschloss ein kleiner
Wattebausch den Flaschenhals.
„Jetzt musst du warten, bis es Wein geworden ist“, sagte er.
Warten war jetzt nicht das, was Klein-Curtchen besonders gut
beherrschte. Da unterschied er sich nicht von den anderen Kindern
seines Alters.
Er hatte die Flasche in der Nähe des Walnussbaumes abgestellt, hockte
sich davor und beobachtete gespannt, ob etwas passiert. Es war nichts
zu sehen.
Als er dann meinte, lange genug gewartet zu haben, zog er den
Wattebausch heraus und trank einen kräftigen Schluck von seinem „Wein“.
Das hätte er nicht tun sollen. Augenblicklich wurde ihm übel. Er
schaffte es noch zum Walnussbaum. Dort übergab er sich und fing an,
jämmerlich zu weinen.
Tante Liesbeth und Onkel Gerhard waren sofort zur Stelle.
Gemeinsam trösteten sie ihn. Nach dem Genuss eines Stücks Würfelzucker
als Bonbonersatz ging es Curtchen aber schon bald wieder gut.
So also hatte damals die Alkoholkarriere begonnen, die nun diese vorne
geschilderten Auswirkungen zeitigten.
Und die, wie auch schon oft beschworen, diesmal das letzte Mal sein
sollten.
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