Neue Geschichten von Herrn Blyantur
Im Forum fand ein Schreibwettbewerb statt mit dem Titel "Launenhafte
Weihnachtszeit"
Es sollten die Worte Schneegestöber, Ulrich, Schrecken und
Kerzenschein vorkommen.
Ich dachte mir die folgende Geschichte aus:
Gefährdete Weihnacht
Das durfte nicht wahr sein. Er wollte es nicht glauben, aber es war so.
Wer ist es,
der einem kleinen Jungen einen solchen Schrecken einjagt,
dachte er.
Auf diese Frage brauchte er eine Antwort. Er würde sie suchen und er
würde sie auch finden.
Dabei hatte alles ganz normal angefangen. Der Tag war abgelaufen wie
jeder Tag.
Bis er nach Hause kam.
Marcus war ein Schlüsselkind. Seit einigen Monaten ging er nach der
Schule nicht mehr in den Hort, sondern gleich nach Hause. So also auch
an diesem Tag.
Die Schuhe ausziehen, Wohnungstüre aufschließen, Jacke an den Haken
hängen nebst Mütze und Schal, das waren schon automatisierte Abläufe,
die er sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte. Auch, um sich
und seiner Mutter einigen Stress zu ersparen. Dann ging er in sein
Zimmer, stellte die Schultasche auf den Hocker und setzte sich an
seinen Schreibtisch. Sein Blick fiel auf den Abreißkalender, den ihm
sein Opa im vorigen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Seit dem
ersten Januar hatte er an jedem Tag ein Kalenderblatt abgerissen.
Zuerst hatte er nicht gewusst, was die komischen Abkürzungen SA, SU, MA
und MU bedeuten sollten, die vorne auf jedem Blatt standen. Doch dann
war ihm eingefallen, dass es Sonnenaufgang und Sonnenuntergang heißen
könnte. Das Gleiche auch für den Mond. Die Zahlen hinter den
Abkürzungen hatten ihn auf die Idee gebracht, denn es waren Uhrzeiten.
Ende März oder Anfang April war dann der Knubbel der
Kalenderblattreste, die zwischen den beiden Drähten der Klammer fest
steckten, so dick geworden, dass er ihn entfernen wollte. Mit einer
gerade gebogenen Büroklammer hatte er keinen Erfolg, also nahm er die
Zirkelspitze. Und seither riss er die einzelnen Blätter so vorsichtig
ab, dass keine Reste hängenblieben.
Hinten auf den Kalenderblättern standen manchmal Sprüche, die ihm
gefielen. Diese klebte er auf die Pappe mit der Sonnenblume, an der der
Kalender befestigt war. Die Sonnenblume, von seinem Opa im Garten
fotografiert, war inzwischen nur noch zu erahnen.
Nun saß er also auf seinem Stuhl, den Abreißkalender im Blick. Wieviele
Blätter würde er wohl noch abreißen müssen, bis es Weihnachten wäre. Er
nahm den Kalender von der Wand und begann zu zählen.
Und da bemerkte er
es.
Es war schrecklich. Er spürte plötzlich, wie sein Mund trocken
wurde. Auf der Zunge hatte er ein pelziges Gefühl. Er konnte es
unmöglich für sich behalten. Er musste mit jemanden darüber reden. Die
Eltern würden erst am Abend nach Hause kommen.
Er rief also seinen Freund Ulrich an. Der hatte seinen Vornamen dem
Starrsinn seiner Mutter zu verdanken, die sich partout nicht hatte
davon abbringen lassen, ihrem Erstgeborenen den Namen ihres
Lieblingsonkels zu geben. Es gab aber niemanden, der Ulrich zu ihm
sagte. Alle riefen ihn nur Ulli.
Aus dem Telefonhörer erklang nach
etlichen Piepsern die Stimme einer Frau, die verkündete: „Der
gewünschte Gesprächsteilnehmer ist momentan telefonisch nicht
erreichbar.“
Ärgerlich.
Marcus warf das Telefon auf das Sofa und ging in die Küche.
Dort nahm er einen Zettel und schrieb „Bin bei Opa“ drauf .
Den Zettel lehnte er an den Kerzenständer mit den vier Kerzen, den
seine Mutter auf dem Küchentisch platziert hatte, weil sie in der
Adventszeit gerne bei Kerzenschein frühstückte.
Den Kalender packte er vorsichtig in den Rucksack. Dann zog er sich an
und anschließend die Tür ins Schloss und marschierte los.
Glücklicherweise hatte das Schneegestöber aufgehört.
Er kam trotz der
verschneiten Gehwege gut voran. Marcus wischte mit der Hand an einer
Hainbuchenhecke entlang, so dass eine glitzernde Wolke aus
Schneekristallen von den braunen dürren Blättern aufstob und hinter ihm
davonflog. Als er an der abgebrochenen Kiefer vorbeikam, sah er weiter
vorn einen Mann den Schnee vom Gehweg fegen.
Es war aber nicht sein Opa, sondern der Nachbar Herr Blyantur.
Marcus rief: „Tach Onkel Curt.“ Er nannte den Nachbarn seines Opas
schon immer Onkel, obwohl der nicht mit ihm verwandt war.
„Hallo Marcus, willste deinen Opa besuchen?“
Diese Frage fand Marcus nun wirklich blöd, stand er doch direkt vor dem
Gartentürchen seines Opas.
„ Ja“, antwortete er deshalb nur, während er
zusah, wie „Onkel Curt“ den Schnee von seinem amerikanischen
Briefkasten abfegte.
Marcus ging den Weg zum Haus entlang und freute sich, dass Opa Piet das
Vogelhäuschen im Vorgarten in Ruhe gelassen hatte, so dass es seine
weiße Schneehaube noch hatte.
Sein Opa freute sich über den unverhofften Besuch. Sie saßen in der
Küche und Markus hatte eine Tasse Kakao vor sich stehen und eine Schale
mit seinen Lieblingskeksen. Den Kakao trank er nur seinem Opa zum
Gefallen, die Kekse mit der Schokoladenschicht dazwischen aß er
freiwillig.
Dann erzählte er von der schrecklichen Feststellung.
Er holte den
Kalender aus dem Rucksack und zeigte seinem Opa, was er meinte. „Es
fehlt das Kalenderblatt vom Vierundzwanzigsten. Vom Heiligabend.“
Marcus fühlte mit einem Mal ein Kribbeln in der Nase und bemühte sich,
das Wasser, das in den Tränenkanälen nach oben strebte, im Zaume zu
halten.
Im Gesicht seines Opas begannen sich die Fältchen zu kräuseln und er
konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Marcus schien es, als
stimme hier etwas nicht.
„Dann fällt der wohl aus“, meinte Opa Piet. Und dabei grinste er
schließlich doch ganz komisch. Dann ging er in die Stube und Marcus
wischte verstohlen die angefangenen Tränen aus den Augenwinkeln. Opa
Piet kam mit einem Buch zurück, das Marcus gut kannte. Es war ein
ziemlich dickes Buch mit einem hellbraunen Kunstledereinband. Opa Piet
hatte davon vier Stück. Auf allen stand „Lexikon in vier Bänden“
geschrieben. Auf dem Band, den der Opa in der Hand hielt, stand
außerdem noch „M – S“ auf dem unteren Teil des Buchrückens.
Opa Piet schlug das Buch auf und entnahm ihm das zwischen den Seiten
541 und 542 liegende platt gepresste Kalenderblatt mit der schwarzen
24.
„Ich wundere mich, dass du es nicht eher gemerkt hast. Ich warte schon
seit einiger Zeit, dass mein kleiner Scherz entdeckt wird.“
„Dein Scherz hat mir einen gehörigen Schrecken eingejagt“, meinte
Markus und hielt dem Opa den Kalender hin. „Nun mach ihn wieder ganz.“
Opa Piet holte sein Taschenmesser aus der rechten Hosentasche, klappte
es auf und schob es zwischen den 23. und 25. Dezember. Er drückte die
Kalenderblätter auseinander und schob die 24 dazwischen. Dann presste
er den Kalenderblock wieder zusammen.
„Wenn du mir dieses Jahr wieder einen Abreißkalender schenkst, dann
zähle ich aber gleich am Jahresanfang nach, ob es 365 Blätter sind“,
sagte Marcus.
„Da wirst du aber staunen, dass es ein Blatt zuviel ist, denn nächstes
Jahr ist ein Schaltjahr. Da sind es 366 Tage“, erwiderte Opa Piet
lächelnd.
Markus war erst einmal froh und glücklich, dass sein Kalender wieder
vollständig war und Heiligabend stattfinden konnte.
Und dem Leser bleibt es überlassen, zu erraten, wo denn der Fehler in
dieser Geschichte stecken mag.
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