Geschichten von Herrn Blyantur
Die Zeit des Herrn Blyantur
„Wissen sie, was ich glaube? Ich glaube, jeder Mensch hat seinen Zeit-
strahl,
an dem entlang er lebt. Vielleicht ist ja Strahl nicht das richtige
Wort, impliziert es doch etwas Gerades, von einem Punkt Ausgehendes und
nirgendwo Endendes.“
Der das sagte, war ein Mann, der am Nebentisch
in dem Biergarten saß, in dem auch Herr Blyantur wieder einmal seinen
Platz gefunden hatte an diesem sonnendurchtränkten, aber etwas
bewölkten Nach-
mittag. Er hatte ein dunkles Bier vor sich stehen
und nicht angenommen, dass er mit jemandem ins Gespräch kommen könnte.
Der Mann hatte es auch mehr oder weniger nur so vor sich hin gesagt.
Wenigstens schien es so. Er war ungefähr in Herrn Blyanturs Alter,
hatte einen mächtigen grauen Haarschopf marx'scher Güte mit zwei
wahrhaft beeindruckenden Koteletten an den Seiten, die erkennen ließen,
dass die Ursprungsfarbe der Haare wohl einmal schwarz gewesen war.
„Vielleicht wäre Zeitpfad ja ein passenderer Begriff“, sagte Herr Blyan-
tur,
„weil er neben der zeitlichen auch eine räumliche Komponente hat.“
Er rückte seinen zusammenklappbaren Biergartenstuhl nach links herum.
Der Kies unter dem Metallgestell des Stuhles knirschte. Der Mann
seinerseits rückte nun seinen Stuhl nach rechts herum und beide saßen
so nebeneinander. Wie im Kino. Der Mann kämmte sich mit den Fingern
beider Hände die Haarpracht nach hinten und reckte sich da-
bei. Beide schauten über die vielen leeren Tische hinweg zur gegen-
überliegenden
Seite des Biergartens hin. Dort saß ein junges Pärchen. Sie saßen sich
zwar gegenüber, hatten sich aber weit über den Tisch gebeugt, hielten
sich an den Händen und schauten sich in die Augen. Unter dem Tisch
berührten sich die Knie. Für sie existierte die Welt drumherum nicht.
Sie waren intensiv mit sich selbst beschäftigt. Herr Blyantur lächelte
in sich hinein, als er das sah und dachte ein wenig an seine eigene
Jugendzeit.
Ohne Herrn Blyantur anzuschauen sagte der Mann: „Das
trifft es genau. Schließlich geht ja auch das Leben nicht immer
schnurgerade-
aus, sondern schlängelt sich gewissermaßen voran.
Manchesmal sogar im Zickzack. Bis zum Jetzt kennt man seinen Pfad, was
das Leben noch bringen wird, bleibt vorerst verborgen.“
Nach einer geraumen Weile sagte Herr Blyantur: „Das ist sicher besser
so.“
Er saß auf seinem Biergartenstuhl mit lang ausgestreckten gekreuz-
ten
Beinen, schaute auf den Häuserblock hinter dem Biergarten und schwieg
für den Moment.
Die Lärche hinter dem Haus ist ein gutes Stück gewachsen seit dem
letzten Jahr, stellte er fest. Sie ragte nun deutlicher über das
Walmdach empor. Und der Star, der auf der Spitze des Baumes saß und wie
wohl schon im vergangenen Jahr seine Liebes-
lieder von dort oben in die laue Luft des Sommers trällerte, war dem
Himmel um genau dieses Stück näher gerückt.
Wenn auch ohne sein Zutun.
„Manchmal
kann es aber passieren, dass sich zwei solcher Zeitpfade kreuzen“,
sagte plötzlich der Mann und lenkte Herrn Blyantur damit von dessen
Betrachtungen ab.
Herr Blyantur schwieg vorerst weiterhin. Er schaute sich die Wolken an,
die recht zügig über den Himmel zogen. Sie ließen allerdings etlichen
Platz für den blauen Sommerhimmel.
„Das muss aber nicht immer heißen, dass die Personen, die diese Pfade
repräsentieren, sich auch zwangsläufig begegnen“, meinte Herr Blyan-
tur, beugte sich zum Tisch hinüber und trank einen Schluck aus seinem
Glas.
„Manche begegnen sich, manche nicht.“
Der Mann sah zu Herrn Blyantur: „Wir sind uns aber begegnet.“
Herr
Blyantur wies mit der Hand in den bewölkten Himmel hinauf.
„Schauen sie mal nach da oben.“
Dort oben schwammen zwei Wolkenschichten. Die höhere der beiden sah
etwas verwaschen aus. Diejenige eine Etage tiefer bestand aus etlichen
einzelnen Haufenwol-
ken.
Beide Schichten bewegten sich in verschiedene Richtungen. Hätte Herr
Blyantur sagen sollen, in welchem Winkel sie sich bewegten, er hätte
wohl gesagt, im rechten.
Und er dachte sich, dass der rechte Win-
kel auch dann rechter Winkel hieß, wenn er sich links befand.
Und dass das schon komisch sei.
Die Männer saßen auf ihren Biergar-
tenstühlen und starrten beide in den Himmel.
„So also könnten sich Zeitpfade auch kreuzen“, sagte der Mann. „Und
sich trotzdem nicht in die Quere kommen.“
„Kommt Zeit, kommt Rat“, zitierte Herr Blyantur ein Sprichwort, nur um
etwas zu sagen.
„Rat
kommt wohl nicht, aber mein Bus kommt gleich“, meinte der Mann mit
einem kurzen Lacher. Er stand auf und verabschiedete sich von Herrn
Blyantur: „Schön, dass unsere Zeitpfade ein paar Biere lang die gleiche
Richtung hatten.“
Und ging davon.
Herr Blyantur schaute ihm nach, trank dann den Rest seines schal
gewordenen Bieres aus und dachte: Schon komisch, womit man seine Zeit
verbringt, wenn man sie hat.
Die Zeit.
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Die Texte
Das
Notizbuch des Herrn Blyantur
Herr
Blyantur und das gestörte Verhältnis
Herr
Blyantur feiert Weihnachten
Herr
Blyantur und das Regal
Herr
Blyantur und das Album
Herr
Blyantur besichtigt ein Gotteshaus
Herr
Blyantur rettet die Welt
Herr
Blyantur und das Geräusch
Ännes
Eiche
Herr
Blyantur und die Unendlichkeit
Die
Zeit des Herrn Blyantur
Paragraphenhengst
&
Herr Blyantur bestellt ein Wasser
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