Geschichten von Herrn Blyantur
Herrn Blyantur und das Geräusch
Durch das Blätterdach fielen helle Flecken der hoch am Himmel
ste-
henden Sonne auf den sandigen Weg durch den Laubwald. Zuvor hatte
ihn ein sehr staubiger Weg durch eine Gegend geführt, wo aus den jungen
Bäumen erst noch ein Wald werden wollte. Dort war we-
nig Schatten
gewesen und Herr Blyantur war froh, diesen Abschnitt hinter sich zu
haben. Die Kunst am Wegesrand hatte dort in hellem Sonnenlicht
gelegen. Eines der Kunstwerke beschäftigte ihn mehr, als all
die
anderen. Vielleicht sollte man es Plastik oder Skulptur oder
Installation nennen. Herr Blyantur war sich nicht im Klaren darüber. An
zwei in den Boden gerammte hölzerne Stämme hatte der Künstler einen
Steinpfeil mit Stahlseilen befestigt. Der Pfeil zeigte nach unten und
Herr Blyantur dachte sich, dass der Künstler vielleicht aus der Gegend
der Südinsel Neuseelands gekommen sein könnte. Mit dem Pfeil wollte er
durch den Mittelpunkt der Erde hindurch auf seine Heimat zeigen.
Eventuell hatte der unbekannte Künstler ja damit bei Herrn Blyantur
sein Ziel erreicht.
Zu Assoziationen anregen.
Und seien sie auch noch so abwegig.
Herr
Blyantur war auf dem Rückweg von einer ziemlich langen Wanderung, die
ihn zu dem Restaurant mit Wildbret auf der Karte geführt hatte. Er
hatte Wildschweinbraten mit Preiselbeeren gegessen.
So gestärkt
schritt er recht kräftig aus, denn er wollte rechtzeitig zu Spielbeginn
des Fußballspiels vor dem Fernseher sitzen. Als Fußballfan, so dachte
er, wäre er sich das schuldig.
Plötzlich hörte er hinter sich das
Pling einer Fahrradklingel.
Herr Blyantur machte einen Schritt nach
rechts an den Wegesrand. Das Fahrrad fuhr an ihm vorbei. Herr Blyantur
war gerade im Begriff, auf seine alte Spur zurückzuwechseln, da huschte
ein zweites Fahrrad so haarscharf an ihm vorbei, dass er einen
gehörigen Schreck bekam.
„Verdammt eng“, dachte Herr Blyantur und sehr laut rief er den
Radfahrern hinterher: „Gerade noch mal gut gegangen.“
Die aber reagierten überhaupt nicht darauf.
Und er konnte plötzlich quietschenden Fahrradketten und klappernden
Schutzblechen durchaus etwas abgewinnen.
Dieser Gedanke wiederum löste fast automatisch Erinnerungen aus an
seine Kinderjahre.
Im
Sommer, wenn er bei geöffneten Fenstern schlief, wurde er regel-
mäßig
geweckt vom Quietschen der Eimerketten des danach benann-
ten Baggers,
der einige Kilometer weit entfernt im Tagebau seine Arbeit bei Tag und
auch bei Nacht verrichtete. Oder ihn weckte das Klingeln der
Grubenbahn, die die Rohkohle in die alte Brikettfabrik des Ortes
brachte.
Eines dieser beiden Geräusche jedenfalls weckte ihn regelmäßig aus dem
Schlaf.
Woher
das Quietschen der Eimerketten kam, das wusste er. Mit seinem
Klassenlehrer und den Klassenkameraden hatte er einmal im Tagebau neben
einem solchen Bagger gestanden. Die Raupenketten, auf denen sich dieser
im
Schneckentempo vorwärts bewegte, waren höher gewe-
sen, als er selber.
Und das Gequietsche der Eimerketten war so nah und so laut, dass sich
einige der Mädchen, die wohl die Empfindlicheren waren, die Ohren
zuhielten.
Das Klingeln als das typische Geräusch einer jeden
Grubenbahn kannte er auch. Viele Jahre später sollte er dann entdecken,
wie es zustande kam. Da war er schon ein erwachsener Mann und Ausbilder
in einem Betrieb, der von solchen Grubenbahnen mit Rohkohle beliefert
wurde.
An einem auseinandergenommenen Kohlewaggon sah er es eines
Tages. Auf jede Achse des Waggons war ein Ring aus daumendickem
Rundstahl geschoben worden. Wenn sich die Achse drehte, klingelte der
Ring darauf. Weil die Ringe aber alle fast gleich groß waren, klang das
Klingeln bei allen Grubenbahnen gleich. Und warum das Klingeln der
Waggons nötig war, erfuhr Herr Blyantur auch. Es ist ein Warn-
signal.
Damit jeder den herannahenden Zug hört. Selbst wenn er ihn nicht sieht.
Ein
solches Warnsignal hätte er sich an den Fahrrädern, von denen das
letztere ihm soeben einen solchen Schreck beschert hatte, auch
gewünscht.
Und so kam es, dass Herr Blyantur dem Geräusch
quietschender Fahr-
radketten und klappernder Schutzbleche plötzlich
durchaus etwas ab-
gewinnen konnte.
|
Die Texte
Das
Notizbuch des Herrn Blyantur
Herr
Blyantur und das gestörte Verhältnis
Herr
Blyantur feiert Weihnachten
Herr
Blyantur und das Regal
Herr
Blyantur und das Album
Herr
Blyantur besichtigt ein Gotteshaus
Herr
Blyantur rettet die Welt
Herr
Blyantur und das Geräusch
Ännes
Eiche
Herr
Blyantur und die Unendlichkeit
Die
Zeit des Herrn Blyantur
Paragraphenhengst
&
Herr Blyantur bestellt ein Wasser
|