Geschichten von Herrn Blyantur
Herr Blyantur und das Regal
So oft kam es nun doch nicht vor, dass Herr Blyantur Besuch bekam.
Er hatte sein Abendbrot verzehrt und gerade begonnen, es zu verdau-
en,
da klingelte es.
Und
gleich darauf pochte noch irgendwer mit der Faust an die Haus-
tür. Herr
Blyantur eilte mit einem gemurmelten „Nu nich mal ganz so
schnell
mit die jungen Pferde“ zur Tür, um zu sehen, wer da Radau machte.
Es war sein Nachbar Piet. Er stand ganz aufgelöst vor der Türe.
„Was ist denn passiert“, wollte Herr Blyantur wissen.
„Unser Marcus, der Enkel ist verschwunden!“
„Wie verschwunden?“, fragte Herr Blyantur.
„Aus dem verschlossenen Haus einfach weg.“
Seit
Herr Blyantur in dem Haus oben auf dem Hügel wohnte, kannte er seinen
Nachbarn Piet. Und seit diesem Zeitpunkt hatte ihn interessiert, wie
der zu seinem Namen gekommen war. Namen waren eine von Herrn Blyanturs
Macken.
Und eines Tages hatte ihm der Nachbar die Geschichte erzählt.
Er
hatte als junger Mann Musik gemacht, wie so viele seiner
Altersge-
nossen, die von der Musik der Beatles und der Stones begeistert
waren. Und wie so viele hatte er auch ihre Titel nachgespielt. Er
konnte aber die englische Sprache nicht. So schrieb er die Titel so,
wie er sie im Radio hörte.
„She Loves You“ schrieb er „Schie laffs juh“
und „Satisfaction“ so, wie er es hörte, nämlich „Sätischfäktschin“. Und
auch seinen schönen männlichen Vornamen Peter sprach er englisch aus.
Seine Kumpels verkürzten das dann zu Piet. Und dabei war es geblieben.
„Ich komme mit rüber“, sagte Herr Blyantur und schlüpfte in die Schuhe.
Sie
gingen durch eine Lücke in der Ligusterhecke, die auf der
Grund-
stücksgrenze wuchs, hindurch. Mit einem großen Schritt mussten sie die
Rabatte übersteigen, in der die Krokusse blüten.
Piet schloss die Haustür auf und
beide gingen hinein.
Sie kontrollierten die Hintertür, die Terassentür und die Kellertür.
Alle waren verschlossen und die Schlüssel steckten innen im Schloss.
„Wie soll jemand die Tür von innen abschließen, wenn er draußen ist?“,
sagte Herr Blyantur.
“Das hab ich mich auch schon gefragt!“, meinte Piet traurig.
„Also muss er noch drinnen sein.“
„Ich hab überall gesucht.“
Sie gingen durch alle Zimmer, guckten in jeden Schrank und unter Betten
und Sofas nach. Marcus blieb verschwunden.
Im
Wohnzimmer fiel es Herrn Blyantur dann auf. Die Bücher im Regal, das
rechts die Schrankwand abschloss, standen irgendwie unordent-
lich in
ihren Fächern.
Und da guckte Herr Blyantur nach oben.
Dort oben auf der Schrankwand lag grinsend der Enkel Marcus und freute
sich diebisch.
Opa Piet fiel fast in Ohnmacht.
„Gefunden!“,
sagte Herr Blyantur lachend, zeigte dabei mit dem Finger auf den
grinsenden Burschen und half ihm schließlich von oben herunter.
Seinem
Nachbarn Piet machte er mit Blicken und einem unmerklichen
Kopfschütteln klar, jetzt bloß nicht mit dem Kleinen zu schimpfen.
Denn der war sich keiner Schuld bewusst.
Für ihn war das der Spaß des
Tages.
Herr Blyantur verkündete dann zum Abschluss der Aufregung ein altes
chilenisches Sprichwort:
„Wer immer nur nach unten schaut, sieht zwar den Dreck an seinen
Schuhen, aber nicht den Condor hoch oben im Himmel.“
„Eigentlich“, meinte er zum noch immer aufgebrachten Piet schließlich,
„könnten wir beide auf den Schreck ein Bier trinken.“
Und das taten sie dann auch.
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Die Texte
Das
Notizbuch des Herrn Blyantur
Herr
Blyantur und das gestörte Verhältnis
Herr
Blyantur feiert Weihnachten
Herr
Blyantur und das Regal
Herr
Blyantur und das Album
Herr
Blyantur besichtigt ein Gotteshaus
Herr
Blyantur rettet die Welt
Herr
Blyantur und das Geräusch
Ännes
Eiche
Herr
Blyantur und die Unendlichkeit
Die
Zeit des Herrn Blyantur
Paragraphenhengst
&
Herr Blyantur bestellt ein Wasser
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