Geschichten von Herrn Blyantur
Ännes Eiche
Das Mädchen saß da auf einem ziemlich großen und noch ziemlich
warmen Stein und spielte mit dem Ende eines der beiden sehr langen
blonden Zöpfe. Sie kitzelte sich mit dem Zopfende wie mit einem Pinsel
unter der Nase.
Sie lächelte und wartete.
Besser gesagt, sie wartete sehnsüchtig.
Am
Samstag zuvor hatte sie auf dem Tanzboden einen jungen Mann
kennengelernt. Eigentlich kannte sie ihn schon aus der Kindheit, denn
sie waren beide in dem Dorf groß geworden. Ihn allerdings hatten sei-
ne
Eltern dann in die Stadt geschickt, damit er dort ein Handwerk erlerne.
Nun war er also zurückgekehrt in sein Heimatdorf und sie hat-
te sich
beim Dorftanz Hals über Kopf in ihn verliebt. Und sie hoffte sehr, er
auch in sie. Sie hatten sich hier an diesem Stein unweit des Dorfes
verabredet. Der Treffpunkt war gut gewählt, denn der Weg an dem Stein
vorbei führte nur zu einem Gehöft, in dem so lange sie den-
ken konnte,
niemand mehr wohnte. So käme sicher keiner vorbei, der sie entdecken
oder überraschen könnte bei ihrem heimlichen Treffen.
Hier saß sie
nun im verblassenden Sonnenschein des frühen Abends, das Gesicht der
tiefstehenden roten Sonne zugewandt und wartete auf ihren Liebsten.
Sehnsüchtig.
Die beiden Gestalten, die von dem verlassenen Gehöft her den Weg
entlang kamen, sah sie erst im allerletzten Moment.
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Der
Bursche ging durch die langen Schatten der Büsche am rechten Wegesrand
den Hügel hinauf. Er hatte eine Verabredung mit dem schönsten Mädchen
des Dorfes. So richtig konnte er sein Glück noch gar nicht fassen, dass
sie ausgerechnet ihn erwählt hatte. Seit er aus der Stadt zurückgekehrt
war, war es der erste Dorftanz gewesen, den er besuchte. Dort hatte er
sie gesehen, die er nur als ein dürres kleines Mädchen kannte mit
langen blonden Zöpfen. Aus dieser Kleinen war eine Frau geworden in der
Zeit, in der er weit weg in der Stadt zu einem Mann geworden war. Nun
sollte er sie also treffen.
An dem Ort, von dem jeder im Dorf wusste, dass sich die Liebenden dort
trafen.
Als
er den großen Stein erblickte und sah, dass sie nicht darauf saß, war
er sehr enttäuscht. Fast wäre er wieder umgekehrt, da sah er etwas
Buntes hinter dem Stein.
Sie lag auf dem Rücken und bot einen
furchtbaren Anblick. Die Kleider zerrissen, die langen blonden Zöpfe
abgeschnitten, blutete sie aus etlichen Stichwunden.
Der Bursche
setzte sich auf den Stein, stützte den Kopf in die Hände und weinte.
Sein Glück war von einer Minute auf die andere zerstört.
Als die
Änne, so hatte das Mädchen geheißen, begraben war, nahm der Bursche
einen Spaten in die eine Hand und ein Bäumchen in die andere, ging mit
schwerem Schritt den Weg hinauf zu dem großen Stein, grub daneben ein
Loch und pflanzte die junge Eiche hinein.
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Herr
Blyantur saß ganz allein auf einer Bank, die jemand aus Stücken eines
Baumstammes und dicken unbesäumten, aber geglätteten Bret-
tern gefertigt
hatte als eine Raststelle für die Wanderer.
Er wischte sich mit
seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Der Weg den Hügel hinauf
hatte ihn angestrengt. Oben angelangt war sein Blick sogleich auf die
mächtige Eiche neben dem Weg gefallen.
Er hatte das Fahrrad dagegen gelehnt. Dicht daneben lag ein großer
Stein halb im Boden versunken.
Herr
Blyantur hatte das Schild gesehen, das man an den dicken Stamm genagelt
hatte und auf dem die zwei Worte „Ännes“ und „ Eiche“ mit einem Pinsel
fast zierlich untereinander gemalt worden waren.
Während er so
dasaß, kam ihm diese Geschichte in den Sinn. So etwa könnte es sich
zugetragen haben vor vielleicht zweihundert oder noch mehr Jahren an
diesem Ort, an dem er jetzt saß, um sich auszuruhen.
Nachher würde
er die schmale rot gepflasterte Straße an der Eiche und an dem großen
Stein vorbei in den Ort hinunter fahren, den er von hier oben schon
sehen konnte.
Er würde hinunterfahren in diesen Ort und in die
Gastwirtschaft einkehren, die seine Wanderkarte auswies.
Vielleicht würde er ja dort erfahren, wieviele Jahre der Baum dort oben
auf dem Hügel schon stand.
Und was es tatsächlich auf sich hatte mit „Ännes Eiche“.
Er war schon sehr gespannt.
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