Geschichten von Herrn Blyantur
Herr Blyantur feiert Weihnachten
Wenn es einen kauzigen Menschen gibt, dann ist das Herr Blyantur.
Feiern andere Menschen zum Ende des Jahres das Fest der Liebe und des
Pfefferkuchens im trauten Heim und im Kreise der Familie, dann tut er
nichts dergleichen.
Er fährt einfach weg.
Im diesem konkreten Falle ist er an die Ostsee gefahren.
Am Heiligabend begab er sich auf den Weg in die benachbarte Stadt. Er
hatte sich dafür entschieden, den Weg zu Fuß zu gehen.
Das Wetter war mies. Es schneite nasse Flocken und der Wind blies
heftig von der See her. Zum Glück für Herrn Blyantur schob der Wind von
hinten, so dass er sich mit der hochgeklappten Kapuze schützen konnte.
In der Stadt und am Münster angelangt, reihte er sich ein in die
Schlange der Wartenden. Bald schon wurde die hohe Holztür, die
sich mit etlichen Schnitzereien schmückte, geöffnet.
Alle strömten in das Innere der riesigen roten Backsteinkirche. Auch
Herr Blyantur strömte und suchte sich einen Platz in einer Holzbank mit
reich verzierter Rückenlehne und mit Armstützen an den Seiten. Er saß
darin wie in einem Kasten. Dort saßen wohl in früheren Zeiten die
reichen Bürger.
Herr Blyantur fühlte sich für einen Moment ein bisschen, wie einer von
ihnen.
Allerdings einer mit nassen Hosenbeinen.
Er hörte die Predigt, aber er nahm ihren Inhalt nicht auf. Er hörte die
Worte sogar doppelt. Einmal ertönte die Stimme des Predigers aus den
bierdeckelgroßen Lautsprechern, die in das Holz des alten Gestühls
ein-
gelassen sind. Sie klirrten und verunstalteten die Stimme, die aus
ihnen tönte. Und dann hörte er als Echo oder als Widerhall die
originale Stimme aus der Kanzel schräg oben über seinem Platz.
Jedes Mal, wenn Herr Blyantur das Innere einer Kirche anschaute, suchte
er - wie er sich einbildete, unauffällig - nur mit den Augen, ob er
Mikrofone fände. Meist fand er welche. Und er fragte sich jedes Mal,
wie es wohl klänge, wenn der Pastor ohne all diese Technik auskom-
men
müsste.
Wie zur Zeit der Eröffnung des Hauses.
Er betrachtete die Kirche und die Menschen in ihren dicken
Winter-
sachen. Es war kalt in dieser Kirche. Wenn nicht gepredigt wurde,
spielte jemand die Orgel. Das war etwas, was ihm gefiel.
Orgelmusik hat
etwas Erhebendes und Erhabenes.
Wohl auch, weil es in dieser Kirche
eine so wunderbare Akustik gab.
Als Herr Blyantur die Kirche verließ, warteten draußen schon andere
Besucher in langer Schlange auf den nächsten Gottesdienst.
Er fuhr mit dem Bus zurück in den Ort, von dem er gekommen war.
Er hatte noch Zeit bis zum Abendessen an diesem Tag, den man
Heiligabend nannte. Angekündigt auf einer großen grünen elegant
bedruckten Karte war ein Viergängemenü, „Elch auf hoher Küste“ benannt.
Herr Blyantur hatte sich eine der beiden Krawatten, die in seinem
Gepäck waren, umgebunden und sich so festlich ausstaffiert.
Der
Tisch,
zu dem er geleitet wurde, war weihnachtlich dekoriert.
Er hatte die
große
Weihnachtstanne im Blick.
Als Geschenk für die Gastgeber hatte Herr Blyantur das kleine Büchlein
eingepackt, das er selbst geschrieben hat. Es enthielt Geschichten, die
ihm bei einem der früheren Besuche dieses Landstrichs eingefallen
wa-
ren. Er hatte das Büchlein noch zu Hause in goldfarbenes Weihnachts-
papier
eingeschlagen und mit einer roten Schleife verziert.
So überreichte er es nun der Hausherrin.
Dann begann das Viergängemenü mit einer Vorspeise.
Es gab Carpaccio vom Rinderfilet.
Herr Blyantur fragte sich jedes Mal, wie man Fleisch in solch dünne
Scheiben schneiden kann. Gewissermaßen könnte man das Blümchen-
muster
des Tellers durchscheinen sehen, wenn denn der Teller ein sol-
ches
Muster hätte. Er hatte aber keins. Er war blütenweiß.
Herr Blyantur erinnerte sich, dass er hier an diesem Tisch schon einmal
saß. Er war
damals geflohen vor dem Alltag mit dem vorausgegange-
nen
Beziehungsstress. Geflohen zu diesem Ort an der Grenze zwischen Land
und Wasser.
Er war damals lange und einsame Wege am Strand entlang und
durch die Küstengegenden gewandert.
Bei der doppelten Kraftbrühe, die als zweiter Gang gereicht wurde,
sinnierte er, wie wohl einfache Kraftbrühe schmecken möge.
Dann folgte das Hauptgericht. Elchbraten. Herr Blyantur hat ja schon
alle möglichen Fleischsorten gegessen. Elch war noch nicht darunter.
Elch ist eine Premiere.
Während des Genießens schaute er aus dem Fenster. Er dachte an das
Land,
das sich weit hinter dem Meer befindet und in dem die Elche heimisch
sind. In der Dunkelheit vor den Fenstern des Restaurants lässt sich das
Meer aber nur erahnen.
Als Herr Blyantur den dezenten Karamelgeschmack der Nachspeise mit
einem Schluck Rotwein gewissermaßen neutralisiert hatte, sah er die
Hausherrin auf sich zu kommen.
Mit seinem Büchlein in der Hand.
Er bekam einen Riesenschreck.
Gefällt es nicht?
Hatte er bei seinen Schreibereien irgendwelche Copyright-Regeln
verletzt?
Herr Blyantur war zutiefst verunsichert.
„Sie müssen aber schon noch eine Widmung rein schreiben“, sagte sie
lächelnd.
Und sie machte Herrn Blyantur für diesen Abend zu einem glücklichen
Menschen.
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Die Texte
Das
Notizbuch des Herrn Blyantur
Herr
Blyantur und das gestörte Verhältnis
Herr
Blyantur feiert Weihnachten
Herr
Blyantur und das Regal
Herr
Blyantur und das Album
Herr
Blyantur besichtigt ein Gotteshaus
Herr
Blyantur rettet die Welt
Herr
Blyantur und das Geräusch
Ännes
Eiche
Herr
Blyantur und die Unendlichkeit
Die
Zeit des Herrn Blyantur
Paragraphenhengst
&
Herr Blyantur bestellt ein Wasser
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