Geschichten von Herrn Blyantur
Herr Blyantur und die Unendlichkeit
„Stephen Hawking hat mich wieder darauf gebracht.“
Herr
Blyantur wandte sich seinem links neben ihm sitzenden Nachbarn Piet zu,
der mit ihm eine Pause einlegte bei ihrer Wanderung.
Am Morgen waren
sie gemeinsam gestartet zu diesem Tagesausflug. Herr Blyantur hatte
ganz erstaunt geguckt, denn sein Nachbar war ausstaffiert wie ein
bayrischer Wanderbursche mit Lederhose, Hosen-
trägern und
Kniestrümpfen aus seinem Haus getreten.
Nun saßen sie auf einer Bank
im Schatten einer hohen Linde, hatten beide ihre Wasserflaschen in
der Hand und auch schon daraus getrun-
ken. Jeder saß an einem Ende der
Bank, denn dazwischen standen die Rucksäcke. Herr Blyantur hatte einen
zinnoberroten Wanderrucksack neuester Produktion. Sein Nachbar Piet
einen alten aus kleinkariertem Stoff gefertigten sogenannten
Campingbeutel. Dieser wurde oben mit einer Kordel zugezogen und eine
Klappe mit Schnappverschluss ver-
deckte die Öffnung.
„Wer ist das denn?“, fragte schließlich Piet.
„Wissenschaftler nennen ihn einen berühmten Wissenschaftler“,
ant-
wortete Herr Blyantur und freute sich über sein Wortspiel.
„Allerdings
nicht er persönlich hat mich darauf gebracht, denn ich kenne ihn nur
aus dem Fernseher, sondern eines seiner Bücher.“
Der Nachbar sah Herrn Blyantur neugierig an. „Worauf denn?“
„Na, auf die Unendlichkeit“, antwortete Herr Blyantur. „Vorne auf dem
Umschlag ist ein Möbius´sches Band abgebildet.“
„Curt, du sprichst in Rätseln.“ Der Nachbar trank einen Schluck aus
seiner Flasche und sah ihn neugierig an.
„Kennst du das Möbius´sche Band nicht?“
„Nie davon gehört.“
„Wenn
man einen Papierstreifen nimmt“, begann Herr Blyantur zu do-
zieren und
unterstrich seine Worte mit entsprechenden Gesten, „und ihn zu einem
Ring zusammenklebt, ein Ende aber vorher um hundert-
achzig Grad
verdreht, dann hat man ein Möbius´sches Band herge-
stellt.“
„Und was fängt man damit an?“, wollte sein Nachbar wissen.
„Es hat nur eine Oberfläche.“ Herr Blyantur sah ihn schulmeisterlich an.
„Jetzt willst du mich aber um die Fichte führen. Solch ein
Papierstrei-
fen hat doch zwei Seiten.“
„Nicht
aber das Band. Wenn man mitten auf ihm einen Strich um das Band herum
macht, kommt man wieder am Ausgangspunkt an. Und wenn du es an diesem
Strich entlang zerschneidest, erhältst du was Überraschendes.“
„Zwei Bänder.“, sagte Piet und begann in seinem Campingbeutel nach
etwas zu kramen.
„Mitnichten.“
Herr Blyantur beobachtete die Suche neugierig, als er-
wartete er, dass
der Nachbar plötzlich Papier und eine Schere hervor-
holen würde. Der
aber hatte schließlich eine Banane in der Hand, schälte sie ab und biss
hinein.
„Es entsteht komischerweise wieder ein Möbius´sches Band,
allerdings doppelt so lang, wenn auch nur halb so breit“, sagte Herr
Blyantur und nickte bekräftigend mit dem Kopf.
„Was du nicht sagst!“, meinte Piet. „Und was hat das nun mit der
Unendlichkeit zu tun?“
„Vielleicht kennst du ja drüben auf den ehemaligen Rieselfeldern den
Weg der Steine?“, fragte Herr Blyantur.
Piet
sah ihn ungläubig an und Herr Blyantur erläuterte ihm, was er meinte.
Es stellte sich heraus, dass der Nachbar den Weg wohl kannte, aber mit
dem Namen nichts anzufangen wusste.
„Wir kommen ja nachher dran
vorbei“, sprach Herr Blyantur, steckte seine Flasche in die
Seitentasche des Rucksacks und gab damit das Signal zum Aufbruch. Piet
packte die Bananenschale in eine Tüte und diese in den Campingbeutel
und schaute recht skeptisch auf seinen Nachbarn. Der Weg führte
zuerst an drei kleinen Fischteichen vorbei.
„Ob Fische drin sind,
weiß ich nicht“, sprach Herr Blyantur. Ein Schild, das einige Meter vom
Ufer weg in den Teichgrund gerammt wurde, verbot jedenfalls das Angeln.
Piet wies auf das Schild und sagte: „Kann durchaus sein, es sind Fische
drin.“
Sie
kamen dann an uralten Weiden vorbei, von denen einige so stark gestutzt
worden waren, dass es unmöglich schien, sie erneut austreiben zu sehen.
Inzwischen waren sie schon wieder voll belaubt. Es schien fast, als
wäre der Rückschnitt kein Rückschritt gewesen, sondern der Beginn einer
neuen Karriere.
Auf den abgesägten Ästen plusterten sich die neuen Triebe wie Glucken.
Nachdem
sie an dem Weg der Steine angekommen waren, ging Herr Blyantur
zielstrebig auf eine Steinskulptur aus Sandstein zu. Diese war auf eine
runde Scheibe gestellt.
„Das ist sie“, sagte er, „die ich immer Eckige Unendlichkeit nenne.“
Er hatte seine Wanderstöcke nach hinten abgestützt, lehnte sich dagegen
und blickte zufrieden auf das Kunstwerk.
„Sie ähnelt in gewisser Weise dem Möbius´schen Band, denn sie hat
scheinbar auch keinen Anfang und kein Ende.“
Einige
Meter weiter auf der anderen Seite des Weges lag ein komisch
zurechtgeschlagener Stein aus Granit auf einer steinernen Bank.
„Und hier hast du die Runde Unendlichkeit.“
Er fuhr mit der Hand fast zärtlich die Krümmungen und Kurven der
Skulptur entlang.
Dann
erklärte er, dass sich neben all den steinernen Kunstwerken frü-
her
einmal jeweils ein unbesäumtes Brett an einem Holzpfahl befunden hätte,
auf dem der Titel des Werkes und der Name seines Schöpfers mit roten
Buchstaben aufgemalt gewesen wären. Doch der Zahn der Zeit und
vielleicht auch die Zerstörungswut einiger Zeitgenossen hätten die
Schilder verschwinden lassen.
„Deine Unendlichkeit in allen Ehren“,
meinte plötzlich Piet, „doch wenn wir jetzt nicht endlich an ein
Gasthaus kommen, bin ich unend-
lich traurig.“
„Wir haben es gleich
geschafft“, sagte Herr Blyantur. „Am Ende des Weges der Steine werden
wir ein Gasthaus finden mit einer endlichen Zahl von Gerichten.“
„Dann hat ja die Unendlichkeit endlich ein Ende gefunden“, meinte Piet
nur philosophisch.
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Die Texte
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Herr
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Herr
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&
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