Geschichten von Herrn Blyantur
Herrn Blyantur besichtigt ein Gotteshaus
Man sah es der achteckigen roten Klinkersäule mit dem
spitzen Dach darüber, die an der Seite des Kirchenschiffs bis über die
Dachtraufe hinaus aufragte, von außen nicht an, dass sie etwas anderes
sein könn-
te, als eine achteckige hohe und rote Klinkersäule mit einem
spitzen Dach.
Sie war aber etwas anderes.
Der Schein trog.
Hätte
Herr Blyantur sich die Mühe gemacht, sie näher zu betrachten, wäre ihm
aufgefallen, dass kleine Fensteröffnungen in regelmäßigen Abständen aus
der Säule ausgespart waren.
Er hatte diese Kirche, die man gemeinhin
das Münster nannte, schon oft besucht. Er hatte ihre Architektur
bewundert, sich an den bunten Kirchenfenstern erfreut, das hölzerne
Rednerpult in Form eines Adlers mit ausgebreiteten Schwingen betrachtet
und sogar schon an einem Gottesdienst teilgenommen.
Am Nachmittag des Heiligabends im vorigen Jahr.
Heute jedoch wollte er sich einer Führung anschließen und die Kirche
auf eine etwas andere Weise kennenlernen.
Die
ziemlich große junge Frau in blassblauen Jeans und einem etwas zu groß
geratenen Pullover von graublauer Farbe versammelte die Teilneh-
mer um
sich und erzählte von der Geschichte des Münsters.
Da war aber nichts,
was Herr Blyantur nicht schon wusste, denn bei den vorhergehenden
Besuchen hatte er eifrig die ringsum an den Wän-
den angebrachten Tafeln
gelesen.
Dann wurde es spannend.
Die Besichtigungsrunde begann.
Die
junge Frau schloss mit einem großen Schlüssel eine kleine Tür auf und
Herr Blyantur sah die achteckige Säule von innen. Er musste sich
bücken, um durch die Tür gehen zu können. Vielleicht waren ja die
Mönche des Mittelalters kleiner von Wuchs, als die heutige Menschheit,
dachte er sich.
Das Innere der Säule war nicht achteckig sondern
rund und weiß aus-
gemalt. Es enthielt eine sehr enge steinerne
Wendeltreppe, die man im Uhrzeigersinn hinaufkraxelte. Herr Blyantur
betrachtete während des Aufstiegs die Schuhabsätze seines Vordermannes
und
gab sich große Mühe, keinen Anfall von Platzangst zu bekommen. Doch
schließlich waren alle Teilnehmer heil oben angekommen über den
Kreuzgewöl-
ben und unter dem Dach. Ziemlich breite hölzerne Stege
durchquerten den Dachraum. Man könnte sie sogar als komfortabel
bezeichnen, dachte Herr Blyantur, waren sie doch mit Geländern an
beiden Seiten versehen.
Von den Erläuterungen der großen jungen Frau behielt Herr Blyantur nur
eines.
Das
Münster hatte keinen Turm. Durfte keinen haben im Verständnis der Zeit,
in der es erbaut worden war. Das, was oben auf dem Dach zu sehen war,
nannte sich nicht Turm oder Türmchen, sondern Dach-
reiter. Trotzdem
waren dort zwei Glocken untergebracht.
Die Glocken hatten auch eine Geschichte, die die junge Frau erzählte,
die sich Herr Blyantur aber nicht gemerkt hatte.
Und doch gab es ein Vorkommnis mit einer der Glocken, das sich ihm
regelrecht eingehämmert hatte.
Als
der Rundgang an den Glocken angekommen war und die Geschichte der
Glocken erzählt war, sagte die junge Frau: „Ich werde jetzt eine der
Glocken anschlagen.“
Herr Blyantur erwartete, dass sie jetzt ein
Hämmerchen hervorholen würde, um damit das zu tun, was angekündigt war.
Er sah sich su-
chend um. Ob er wohl das Hämmerchen finden würde?
Und er wartete darauf, die Glocke klingen zu hören.
Doch es sollte ganz anders kommen.
Die Frau ergriff ganz einfach den Klöppel und haute ihn mit voller
Wucht gegen die Glocke.
Herr
Blyantur erschrak sehr und war einen kurzen Moment lang voller Sorge
wegen seiner Trommelfelle. Mit offenem Mund stand er da, ob-
wohl das
Mundaufreißen danach keine Wirkung mehr haben konnte.
Und er erinnerte sich an ein ähnliches Erlebnis aus seiner Kindheit.
Es
passierte zu einer Zeit, als er mit vielen seiner Klassenkameraden
regelmäßig in das Gemeindehaus neben der Kirche des Ortes ging, um an
der Christenlehre teilzunehmen, die ihn auf die Konfirmation
vor-
bereiten sollte. Eines Tages sollten sie den Kirchturm besteigen. Im
Innern des großen viereckigen Turms gab es eine hölzerne Treppe, der
das Geländer fehlte. Nur an der Wandseite gab es einen Handlauf.
Außerdem waren die Stufen nur einfache Trittbretter, durch deren Lücken
man hindurchgucken konnte. Und der kleine Curt war zu allem Übel ein
Angsthase. Die anderen waren schon alle oben und riefen nach ihm.
Da
fasste er sich doch ein Herz und kletterte die Stufen hinauf.
Genau
in dem Moment, als er die letzte Stufe betrat, schlug die Glocke. Curt
dachte, er wäre der Auslöser des Glockenschlages. Ihm blieb fast das
Herz stehen. Doch es war nur der Viertelstundengong der Turmuhr gewesen.
Der
Ausblick von dort oben auf die Straßen und Häuser seines Heimatortes
und in die ferne Umgebung entschädigten ihn dann aber für die
Aufregung. Die Straßen, die er sah, hatte er schon als einen Ortsplan
im Erdkundeunterricht zeichnen müssen. Die fernere Umge-
bung würde er
später mit seinem Fahrrad erkunden.
An all das musste Herr Blyantur denken hoch oben im Inneren des
Dachreiters des
Münsters und hoch oben im Norden.
Und
obwohl im noch die Ohren klangen von dem unerwarteten Glockenschlag,
fand er es eine sehr gelungene Idee, das Münster auf diese Weise
erkundet zu haben.
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Die Texte
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