Vergangene Erinnerung
Sense
Im Frühjahr vor dem ersten Wiesenschnitt setzte sich mein Großvater
unter den riesigen Knubberkirschenbaum hinten im Garten auf einen
Schemel zum Sense dengeln. Im Schatten der riesigen Baumkrone war ein
Granitstein eingegraben. Manchmal sieht man den oberen Teil eines
solchen Steins als Grenzstein am Rande eines Feldes.
Großvaters Granitstein war aber nur soweit eingegraben, dass er nicht
umfallen konnte. In die Mitte der oberen Fläche war das Dengeleisen
eingelassen. Mein Opa saß dann da und schlug mit einem Hammer ganz
präzise und gleichmäßig auf die Klinge der Sense. Deren Holzstiel,
Sensenbaum genannt, war mittels einer Schlinge an einem armstarken Ast
des Kirsch-
baumes so aufgehängt, dass das Sensenblatt genau richtig auf dem
Eisenstück lag.
Die Schläge gaben ein stetiges klingendes Geräusch von sich, wie der
Klang einer kleinen Kirchenglocke. Die Klinge wurde durch die Schläge
ganz dünn ausgeschmie-
det. Dadurch wurde sie scharf und außerdem
gehärtet. Damit das Metall nicht warm wurde,
tauchte mein Opa den Hammer in gewissen Abständen in das Wasser, das
sich in einer Blech-
büchse neben dem Granitstein befand.
Es ist schon komisch, was das Gedächtnis so alles speichern kann.
Ich vergesse bestimmt das Geräusch nicht, das das Hämmern auf dem
Dengeleisen erzeugte.
Ich hör es und sehe meinen Opa dort sitzen.
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Vertiko
Ich war schon als Kind ein ziemlich neugieriger Mensch.
Das Vertiko in dem Zimmer, das mein jüngster Onkel in seinem Elternhaus
bewohnte, übte eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Wenn ich in
den Ferien bei meinen Großeltern war, schlief ich
in der Kammer mit der Dachschräge, die sich neben dem Zimmer meines
Onkels befand.
Mein Onkel wurde morgens von meiner Oma immer
mit den Worten «Ginta offstehn« geweckt, die sie vom Fuß der
Holz-
treppe, die ins Obergeschoss führte, nach oben rief. Er musste
mehrmals gerufen werden. Mit jedem neuen Mal wurde das Rufen drängender
und lauter. Bis mein Onkel Günter dann endlich aufstand. Es zog wieder
Ruhe ein. Meist schlief ich noch einmal ein.
Wurde ich dann wach, konnte ich der Versu-
chung nicht widerstehen und
zog das Schubfach auf, das sich über den beiden Türen des Vertikos
befand. Hinter den Türen befand sich die Wäsche meines Onkels. Die
interessierte mich nicht.
In dem Schubfach aber waren interessante Dinge. Am meisten faszinierten
mich die Bücher. Dabei waren es nur zwei. Eines war ein Fachbuch aus
der Lehrlingszeit des Onkels, der ein Zimmermann war. Daraus lernte ich
die Bezeichnungen der Werkzeuge kennen, die dieses Handwerk benutzt.
Und - wenigstens theoretisch – wie man aus einem runden Stamm einen
viereckigen Balken machen kann.
Mit der Hand!
Das andere Buch war das Berufsschulbuch meines Onkels, der ein Böttger
werden wollte. Aus ihm lernte ich - lange, bevor ich es in der Schule
lernen musste -, wie man eine Ellipse mit zwei Reißzwecken, einem
Bindfaden und einem Bleistift zeichnet.
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Die Texte
Entree
Buchwalde
& Kolonialwaren
Sense
& Vertiko
Holzpantinen
& Segelflieger
Schafe
& Horizont
Thörnsee
& Haubentaucher
Apfelblüte
& Korkenzieherweide
Klinker
& Linde
Adonisröschen
& Wildschwein
Abstieg
& Bildhauer
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